Die Wissenschaftstheorie von Karl R. Popper und Thomas S. Kuhn : Positionen und Konzepte zur Wissenschaftsentwicklung
Wissenschaftstheorie beschäftigt sich grundlegend mit der Frage wie Wissenschaft funktioniert. Hierzu gehört die Analyse wissenschaftlicher Begriffe, Methoden und Entwicklungen. Wissenschaftstheorie erfolgt interdisziplinär im Spannungsfeld von Wissenschaftsgeschichte,- Soziologie, und Philosophie, an der Schnittstelle zu den Natur- und Kulturwissenschaften. In dieser Abschlussarbeit werden die ungleichen und zum Teil gegensätzlichen Positionen von Karl Popper und Thomas Kuhn vorgestellt, und die von ihnen ausgelöste Diskussion anhand Imre Lakatos und Paul Feyerabend exemplifiziert. Karl Poppers wissenschaftstheoretisches Hauptwerk «Logik der Forschung» (1934) gehört zu den einflussreichsten Werken der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts. Es enthält eine Abhandlung über das Induktionsproblem und das Demarkationskriterium in den Wissenschaften. Nach Popper erlauben endlich viele Beobachtungen keinen logisch gültigen Schluss auf Allaussagen, die den Kern von wissenschaftlichen Theorien bilden. Sein Gegenentwurf ist der Falsifikationismus, Theorien können sich durch empirische Prüfung bewähren oder falsifiziert, aber niemals verifiziert werden. Die empirische Falsifizierbarkeit, Scheitern an der Erfahrung, sei das Demarkationskriterium empirischer Wissenschaften gegenüber Nicht-Wissenschaften. Popper richtet sich gegen den Konventionalismus, die Strömung, welche Erkenntnisse nicht als Übereinstimmung von Beobachtung und Theorie definiert, sondern als Übereinkommen zwischen Wissenschaftlern. Zum einen können diese Konventionen nicht falsifiziert werden, da bereits die Methode selbst auf Konventionen beruht. Zum anderen erlaube die Umdeutung der Methoden eine Anpassung von Beobachtung und Theorie, von Popper als «Immunisierungsstrategie» abgelehnt. Poppers eigener Entwurf vom wissenschaftlichen Fortschritt ist die Abfolge von falsifizierten bzw. falsifizierbaren Theorien, die sich immer besser als die vorherigen bewähren. Dieses Modell bringt Probleme mit sich, die von seinen Kritikern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts benannt werden. Thomas Kuhn entwickelt in seinem Hauptwerk «Die Struktur Wissenschaftlicher Revolutionen» (1962) auf Grundlage historisch-soziologischer Fallanalysen ein periodisches Modell von der Etablierung bis zum Verlassen eines Paradigmas in den Wissenschaften. Die Wissenschaftsgeschichte sei keine lineare Abfolge von Falsifikationen, sondern durch Perioden von Normalwissenschaft, Krisen, und Revolutionen gezeichnet. Kuhn wird häufig vorgeworfen, dass seine Wissenschaftstheorie keine rational begründbaren Aussagen mehr ermögliche, sondern nur noch die psychologische Überzeugung der Forscher ausschlaggebend für die Annahme oder Verwerfung einer Theorie sei («Rationalitätslücke»). Seine Ablehnung des Konzepts von überlegenem Wahrheitsgehalt einer Theorie gegenüber einer konkurrierenden Theorie brachte ihm den Vorwurf von Relativismus ein. Die Inkommensurabilität zwischen Paradigmen wirft die Frage auf, ob Kuhns Modell des Theorienwandels die Möglichkeit wissenschaftlichen Fortschritts zulässt. Mit Imre Lakatos und seinem Vorschlag der «Scientific Research Programmes» (1970) wird ein Versuch vorgestellt beide Positionen von Kuhn und Popper zu vereinen. Hierbei handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Falsifikationismus unter Berücksichtigung historisch-soziologischer Analysen («sophisticated falsificationism»). Dieses Modell versteht Theorienwandel als Auseinandersetzung zwischen der etablierten Theorie, der neuen Theorie und der Beobachtung («three-cornered fight»). Zum Theorienwandel komme es, wenn die alte Theorie falsifiziert wurde, und eine bessere, neue Theorie teilweise verifiziert wurde. Theorien bestünden aus dem sogenannten harten Kern («hard core») und den ihn stützenden Hilfshypothesen («protective belt»). Eine Theorie und das mit ihr verbundene Programm («research program») sei dann erfolgreich («progressive»), wenn sie sich ohne zu grossen Rückgriff auf Hilfshypothesen bewährt, anderenfalls würde sie durch konkurrierende Programme abgelöst («degenerated»). Fortschrittliche Programme zeichnen sich durch höheren empirischen Gehalt aus («corroborated excess empirical content»). Lakatos versucht, zusammengefasst, mit seinem Modell folgenden historischen Umständen und logischen Erwägungen Rechnung zu tragen: 1. Falsifikation und Verifikation sind beides legitime Verfahren, 2. Wissenschaftliche Prüfung erfolgt immer zwischen zwei konkurrierenden Theorien und der zu erklärenden Beobachtung, 3. Theorien-Serien ereignen sich nicht zufällig, sondern wenn ein empirischer Mehrwert mit der neuen Theorie verbunden ist. Paul Feyerabend argumentiert in «Wider dem Methodenzwang» (1975) gegen die Vorstellung, dass Wissenschaft spezifischen Regeln (der Induktion, der Logik, etc.) folgt. Seine wissenschaftsgeschichtliche Analyse soll zeigen, dass sich Fortschritt im Bruch etablierter Regeln ausdrückt («anarchistische Wissenschaftstheorie»). Zusätzlich mahnt Feyerabend vor einem unkritischen Umgang mit dem Verhältnis von Beobachtung und Theorie. Anhand historischer Beispiele soll gezeigt werden, dass Unstimmigkeiten zwischen Beobachtung und Theorie häufig nicht zur Korrektur der Theorie führen, sondern mit ad-hoc Hypothesen oder Archivierung neutralisiert werden. Grosse Entdeckungen seien erst durch «Kontrainduktion» möglich, also das Aufstellen von Hypothesen, welche geltenden Regeln widersprechen. Dies sei Bedingung dafür, so Feyerabend, dass auch unterrepräsentierte Positionen mehr Gehör erhielten («Theorienpluralismus») und die Wissenschaft mit anderen kulturellen Tätigkeiten gleichzustellen. Sein Ansatz vom «anything goes» wurde vielfach als zu beliebig kritisiert und ihm wurde wissenschaftsphilosophischer Relativismus unterstellt. In dieser Arbeit sollen zunächst die Positionen von Popper, Kuhn, Lakatos und Feyerabend herausgearbeitet werden. In diesem Kontext soll der erkenntnistheoretische Anspruch und die Konzepte wissenschaftlicher Entwicklungen der Autoren rekonstruiert werden. Popper und Lakatos vertreten die Position, dass die Sequenz der Entwicklung von Theorien und deren Widerlegung bzw. Bewährung näher an die Wahrheit beobachtbarer Ereignisse führt. Fortschritt ist bei Popper weitgehend ein linearer kumulativer Prozess durch bewährte und falsifizierte Theorien. Lakatos entwickelt auf Grundlage wissenschaftshistorischer Erwägungen den kritischen Rationalismus weiter, fortschrittliche Forschungsprogramme zeichnen sich durch ihren höheren empirischen Gehalt aus, Theorienwandel wird zum dynamischen Prozess. Kuhn hingegen sieht in der Überzeugung der wissenschaftlichen Gemeinschaft von einem Paradigma das wesentliche Moment dessen Gültigkeit («Konventionalismus»), ungeachtet von dessen Wahrheitsgehalt. Wissenschaftlicher Fortschritt kann im Stadium der Normalwissenschaft durch Verbesserung des Paradigmas erreicht werden. Eine historische Beurteilung wissenschaftlichen Fortschritts ist nicht möglich, weil Kuhn von «Inkommensurabilität» zwischen Paradigmen ausgeht. Feyerabend schliesst sich der Position Kuhns grundsätzlich an, verbindet dies aber mit einer radikalen Kritik an wissenschaftlichen Methoden und der Einflussnahme durch politische Institutionen.
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